Märchen aus dem Land der Feuer - Aserbaidschan
In Übersetzung von Mag. Liliane Grimm

Das Geheimnis der Mühle

Es war einmal ein junger Mann, der war ein guter Handwerker. Noch dazu war er sehr tapfer und brav.

Obwohl er fleißig war und ein Einkommen hatte, lebte er mit seiner Frau im Elend. Wie viel er auch verdiente, er wusste nicht, wie er es anstellen sollte, sein tägliches Brot zu erwerben. Und so sehr der junge Mann auch darüber nachdachte, er konnte nicht herausfinden, warum. Er grübelte und grübelte: „So viel ich auch verdiene, erwerbe ich doch keinen Wohlstand, und die Armut weicht nicht aus meinem Haus. Was mag nur der Grund dafür sein?“

Eines Nachts sah der Bursche im Traum, wie ein alter Mann, den Tasbeh[1] in der Hand und auf dem Kopf einen Turban, zu ihm kam und sich freund­lich an ihn wandte: „Ei junger Mann, ehe du ganz dem Trübsinn erliegst, hör mir zu! Tu, was ich sage, und du wirst dich aus der Not befreien können.“

Aufmerksam lauschte der junge Mann den folgenden Worten des Alten: „Der Wind hat dein Glück hinweggefegt und es weit fortgetragen. Solange du es nicht suchen gehst, werden Not und Armut dich nicht verlassen. Wenn du aus dem Traum erwachst, nimm dir Mund­vorrat für mehrere Tage, mach dich auf den Weg und geh in die Richtung, in die du gerade siehst. Du wirst viel Mühsal zu ertragen haben, doch am Ende wird alles gut ausgehen.“

Kaum hatte der Alte diese Worte gesprochen, verschwand er spurlos. So sehr der Bursche seine Augen auch anstrengte, er konnte niemanden entdecken. Dann erhob er sich, und dabei blickte er gegen Morgen. Zu seiner Frau aber sagte er: „Frau, ich will auf Reisen gehen, bereite mir Proviant für ein paar Tage.“

„Aber Mann, was ist denn in dich gefahren, bist du von Sinnen, wohin willst du denn ziehen?“ fragte die Frau und drang in ihn.

Aber so sehr sie auch auf ihn einredete, der Bursche änderte seinen Entschluss nicht. Also richtete sie schließlich die Wegzehrung her und brachte sie ihrem Gemahl.

Als die Sonne hinter den Bergen aufging, trat der Bursche seine Reise nach Osten an. Er zog immer weiter fort, bis er sein Heimatland verlassen hatte. Bei einer Quelle angekommen, tunkte er sein trockenes Brot ins Wasser und aß es. Dann setzte er seinen Weg fort. 

Er wanderte ein wenig, er wanderte weit und kam schließlich an einen Ort, an dem sich sieben Straßen kreuzten. Dort sah er einen Sack Weizen und einen Baum ohne Laub stehen. Daneben waren zwei Männer. Jeder der beiden nahm von dem Weizen und warf ihn auf den Baum. Der junge Bursche überlegte. Er fühlte, hier verbarg sich ein Geheimnis, und trat näher heran. Höflich begrüßte er die beiden. Sie erwiderten seinen Gruß und erkundigten sich: „Nun junger Mann, wohin des Wegs?“

Der Bursche sah, dass der Weizen keinerlei Spreu enthielt und dass sich nicht einmal das Wasser getrübt hätte, wenn man ihn hinein geschüttet hätte. So überlegte er bei sich, warum die beiden wohl dieses reine Getreide auf einen dürren Baum warfen? Welchen Sinn mochte das haben?

Der junge Mann sprach: „Solange ihr mir euer Geheimnis nicht enthüllt, werde ich euch auch nicht sagen, wohin ich gehe.“

Einer der beiden erklärte: „Wir werfen den Weizen auf den Baum, damit er dort liegen bleibt. Aber den Grund dafür wissen auch wir nicht. Wir bekommen nur unseren Lohn dafür.“

So sehr der junge Mann auch in sie drang, die Männer antworteten nur: „Wir können nicht mehr dazu sagen.“

Dann fragte einer den Handwerksburschen nochmals, wohin er gehe. Darauf erwiderte dieser, dass er auf der Suche nach seinem Glück sei. Und er ließ nicht locker, um doch noch das Geheimnis des Weizens zu erfahren. Die beiden Männer aber zeigten auf einen der sieben Wege und sagten: „Siehst du diese Straße? Folge ihr, bis du zu einer Mühle kommst. Dort kannst du das Geheimnis erfahren.“ 

Der junge Mann verabschiedete sich von den Männern, die den Weizen auf den Baum warfen, und schickte sich an, die von ihnen gewiesene Straße zu ziehen. Er wanderte ein wenig, er wanderte weit, zog über Berg und Tal und ging immer geradeaus, bis er die von ihnen genannte Mühle erreichte. Dort stieß er wieder auf ein seltsames Geschehen. Er erblickte bei der Mühle ein Fass voll desselben Weizens, den er vorher gesehen hatte. Dieser wurde in die Öffnung des Mahlwerks hineingeschüttet, aber daneben stand kein Gefäß für das Mehl. Aus der Mühle rann Mehl ins Wasser und das Wasser mit dem Mehl floss ab. Der Bursche näherte sich dem Müller und grüßte ihn; dieser dankte artig für den Gruß und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

Aber der Handwerker wollte sich nicht gedulden. Er zog ein Tuch aus der Tasche, um sich von dem Mehl zu nehmen. Doch der Müller schob ihn beiseite, und so inständig ihn der junge Mann auch bat, der Müller lüftete das Geheimnis dieses seltsamen Geschehens nicht. Da wurde der Bursche zornig und drohte: „Wenn du mir dieses Geheimnis nicht eröffnest, werde entweder ich dich erschlagen oder du wirst mich töten.“

Der Müller indessen antwortete: „Ich arbeite nicht umsonst. Die Mühle, die du hier siehst, und die Art, wie sie arbeitet, bringen mir Geld ein. Aber ich kann dir nicht erklären, warum.“

Dann erkundigte er sich: „Junger Mann, woher kommst du und wohin gehst du?“

Da klagte der Bursche ihm sein Leid, und als er geendet hatte, flehte er den Müller wiederum an, ihm das Geheimnis zu verraten.

Der Müller aber meinte: „Ei junger Mann, ich will dir einen Weg zeigen. Ziehst du diese Straße entlang, so wirst du an ihrem Rande einen großen Palast liegen sehen. Dort wohnt ein gerechter, mächtiger Herrscher. Wenn du dort hineingehst und vor den Schah trittst, magst du dieses Geheimnis durchschauen. Aber hüte dich, ihn zu erzürnen.“ 

Der junge Mann verabschiedete sich von dem Müller und setzte seinen Weg fort. Er war noch nicht lange gegangen, als er am Ufer eines Flusses einen großen Baum erblickte. Darunter wollte er ein wenig rasten. Da sah er, dass sich oben auf dem Baum ein schöner, farbenprächtiger Vogel niedergelassen hatte. Und der begann plötzlich zu sprechen: „Nun junger Mann, hier ist weit und breit keine Menschenseele. Bleib eine Nacht bei mir zu Gast. Auch ich bin wie du von weither gekommen. Sag mir nur, wohin du gehst, vielleicht kann ich dir helfen.“

Als der Vogel so gesprochen hatte, überfiel den Burschen eine große Müdig­keit, und er schlief die ganze Nacht über.

Als er am nächsten Tag erwachte, graute schon der Morgen. Er schaute sich um und sah, wie der Vogel auf dem Baum ein gar trauriges Lied sang und dazu weinte. Da bat der Handwerksbursche den Vogel: „Weine doch nicht, warum bist du denn so betrübt? Sag mir den Grund, vielleicht kann ich dir helfen.“

Der Vogel erwiderte: „Bleibe auch noch diese Nacht bei mir, dann wirst du den Grund erfahren.“

So blieb der junge Mann eine zweite Nacht dort, und dieses Mal hörte er beim Erwachen, dass der Vogel ein heiteres Lied sang und dazu lachte. Um des Vogels Geheimnis zu lüften, blieb der Handwerker noch eine weitere Nacht dort. Und so erfuhr er, dass der Vogel einen Tag weinte und einen Tag lachte. Der Bursche flehte ihn an, ihm sein Geheimnis zu verraten, aber der Vogel gab es nicht preis und zwitscherte nur: „Ich kann dir das Geheimnis nicht offenbaren.“

Und dann fragte ihn der Vogel: „Sag mir, wohin du gehst?“

Der Handwerksbursche versetzte: „Ich suche nach meinem Glück.“

Da meinte der Vogel: „Nun, junger Mann, niemandem wurde es zuteil, alle Geheimnisse des Lebens zu kennen, nicht anders ergeht es mir. Aber ich rate dir, geh diesen Weg. Am Rande dieser Straße wohnt ein großer Herr. Er ist ein kluger, gerechter Schah. Und dieser kennt fast alle Geheimnisse der Welt.“    

Der Handwerksbursche verabschiedete sich von dem Vogel und machte sich wieder auf den Weg. Er war ein wenig gewandert, er war weit gewandert, als er am Wegesrand ein auffälliges Gebäude bemerkte. Er sah, dass jede Seite des Bauwerks eine andere Farbe hatte. Und vor jeder Front stand eine Wache mit einem Gewand in derselben Farbe. Der junge Mann kam zu dem Wächter vor einer der Fassaden und sprach ihn an: „Bruder, ich komme aus einem fernen Land, und ich möchte dem Schah meine Aufwartung machen.“

Der Wächter erbarmte sich seiner und geleitete ihn auf seine Bitte hin zum Fürsten. Der junge Mann trat vor den Schah und verbeugte sich ehrerbietig. Als der Herrscher ihm ins Gesicht sah, bemerkte er, dass ihn der Hunger plagte. Er ließ ihm Speise und Trank bringen. Nachdem der Befehl ausgeführt worden war und er sich gelabt hatte, wurde er vorgelassen.

Der Schah fragte ihn: „Nun, junger Mann, wohin des Wegs und was ist dein Begehr?“

Der junge Mann erzählte, was ihm widerfahren war. Danach verbeugte er sich erneut und bat untertänig, ihm die Geschehnisse zu deuten, die er unterwegs erlebte hatte.

Darauf erklärte ihm der Schah: „Zuerst hast du zwei Männer gesehen, die Weizen über einen Baum warfen. Das ist kein schwer verständliches Rätsel. Es bedeutet einfach, der Geist wird dem Menschen bei seiner Erschaffung gegeben. Wie der Weizen nicht am Baum haften bleibt, so kann auch später niemand jemandem Verstand geben.

Als zweites hast du das Geschehen in der Mühle beobachtet. Jene ist ein Gleichnis für Mann und Frau. Die Mühle ist der Mann, der Behälter aber die Frau. Das in der Mühle gemahlene Mehl, das im Behälter aufgefangen werden soll, rinnt heraus. So groß der Verdienst des Mannes auch sein mag, wenn er im Gefäß seiner Frau nicht bewahrt wird, wird die Armut nicht von ihnen weichen.

Drittens bist du auf dem Weg einem geheimnisvollen Vogel begegnet. Dies Erlebnis spiegelt das Geschehen dieser Welt wider. Auf Erden gibt es einerseits Hochzeiten, andererseits Begräbnisse. Das Lachen des Vogels an einem Tag erklingt zur Geburt eines Menschen, und das Weinen am nächsten Tag beweint den Tod eines Menschen.“

Als der Handwerksbursche vom Schah die Bedeutung seiner Erlebnisse erfahren hatte, rief er aus: „Ich bin gekommen, um mein Glück zu suchen. Hier habe ich es gefunden.“ 

Dankbar verabschiedete sich der junge Mann vom Schah und kehrte frohgemut nach Hause zurück. Haarklein erzählte er seiner Frau, was er erlebt hatte, und erklärte ihr: „Die Not unserer Familie hängt mit dem Geheimnis der Mühle zusammen. Sie enthüllt das Geheimnis, warum wir in Armut leben. Es liegt nicht daran, dass mein Einkommen zu gering ist. Der Mann gleicht der Mühle, die Frau aber dem Behälter. So viel Mehl die Mühle auch mahlte, ihre Arbeit war vergeblich, weil kein Gefäß es auffing. Wie viel ich auch verdienen mag, solange du nicht mittust und dich nicht bemühst, die Arbeit schätzen zu lernen, werden wir in Armut leben.“ 

Die Frau war von den Worten des Mannes sehr beeindruckt und ver­sprach, von ihrer Nachlässigkeit abzulassen. Von diesem Tage an war sie strebsam und fleißig, und hielt den Haushalt in Ordnung. 

Nun begann ein neues Dasein für das Ehepaar. Sie hatten genug zu essen und zu trinken und lebten glücklich bis an ihr seliges Ende. Esst und trinkt auch ihr, und eure Wünsche mögen sich erfüllen.


 

[1] Muslimischer Rosenkranz, dessen Kugeln an die schönsten Namen Allahs erinnern